Heute möchte ich mit Sandra Ratkovic über ihr neues Fotobuch „москва“ sprechen.
Sandra Ratkovic hat Kunstgeschichte studiert und danach eine Fotoausbildung bei Ursula Kelm absolviert. Sie lebt und arbeitet als freie Fotografin in Berlin. Ihre Arbeiten waren z.B. auf der London Art Fair, in Manchester, München und in Berlin ausgestellt.
JB: Ich weiß, dass Sie sich umfassend mit dem „typisch Britischen“ befasst haben und bspw. eine Street Photography-Reportage in englischen Städten gemacht haben. Wie kam es nun zu dieser Reise nach Moskau? Was hat den Ausschlag dazu gegeben?
SR: So verschieden ist die Entwicklung in England und Russland gar nicht. In beiden Ländern findet man „Reste“ der Tradition und des Landespezifischen, das in beiden Fällen langsam verschwindet, aber in Bruchstücken noch da ist.
Den Ausschlag zu der Reise nach Moskau gab ein Fotoprojekt, das ich gemeinsam mit einem befreundeten Fotografen durchführe. Ich habe vor mehreren Jahren damit begonnen ehemalige russische Hinterlassenschaften in und um Berlin zu besuchen und zu fotografieren (Kasernen, Militärflughäfen etc.) und traf so auf Orte, die von der ehemaligen sowjetischen Besatzungsmacht zurückgelassen wurden.
Die Spuren die ich dort sah faszinierten mich. Ich traf auf russische Tageszeitungen aus den 80er Jahren, mit denen Wände und Decken tapeziert wurden, Kosmonautenmalereien in Kinderkrankenstationen, Lenin-Reliefs und folkloristische Raketen-Gemälde. Nachdem ich mehrere dieser Orte besucht und fotografiert hatte, begann ich ein Muster in ihnen zu erkennen und war fasziniert von der militaristischen, patriotischen aber gleichzeitig auch auf wundersame Weise bunten und bizarren Welt der sowjetischen Hinterlassenschaften.
Ich wollte diese für mich so sehr spannend gewordene russische Kultur zu erkunden und beschloss, zwei Wochen in Moskau zu verbringen. Ich stieß auf ein faszinierendes, lautes, buntes aber auch tragisches und absurdes Potpourri aus Pop-Patriotismus, Traditionellem und Neuen, sich verändernden Frauen- und Männerrollen und Globalisierung gemischt mit Folklore.
JB: Auffällig sind die häufig menschenleeren Stadträume und die knallbunten Farben. War das ihr stärkster Eindruck von Moskau?
SR: Generell liebe ich Farben und ich arbeite in meinen Bildern und bei der Komposition meist eher mit Farben als mit der Schwarz-Weiß-Fotografie. Bei meinem Aufenthalt in Moskau war ich also stark auf die Farben in meiner Umgebung konzentriert. Und Moskau war für mich viel bunter, farbenfröhlicher und plakativer als ich es erwartet hätte. Meine Bilderserie und besonders die starken Farben haben viele überrascht, die noch nie in Moskau waren.
JB: Im zweiten Drittel des Buches gibt es vermehrt Aufnahmen von Menschen. Meist vereinzelt, oft von hinten. Absicht? Der Mensch in der Vereinzelung der Großstadt?
SR: Ich zeige die Menschen von hinten, wenn bei dem Bild nicht das individuelle Schicksal des Menschen im Vordergrund stehen soll, sondern er in diesem Moment exemplarisch für die Situation einer bestimmten Gruppe steht oder für ein bestimmtes Gefühl. Darum ist bei diesen Fotos das Gesicht nicht von Bedeutung. Es wird das große Ganze gezeigt, nicht das persönliche Schicksal.
Aber auch die Vereinzelung und Verlorenheit in der Großstadt und in einer sich wandelnden Gesellschaft werden durchaus in den Fotos thematisiert: Es herrscht Einsamkeit, Leere und Verlorenheit in einer Umgebung, die eigentlich das Gegenteil suggerieren soll: Bunte Großstädte, moderne Metrostationen, knalliger Lippenstift, Machtsymbole, Vergnügungsparks… Die Menschen auf den Moskau-Bildern sollten der Umgebung her eigentlich glücklich sein, sind es aber nicht …
JB: Was hat Sie bewogen, das Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Krieges zu besuchen? Wie haben Sie das Museum erlebt? Was hat Sie als Fotografin gereizt?
SR: Bei dem Moskau-Fotoprojekt habe ich gezielt Orte besucht, an denen man den Militärkult und das Traditionelle gut beobachten kann. Das Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Krieges ist ein perfekter Ort dafür. Ich war dort in den ersten Minuten völlig sprachlos. Bereits beim Eingang im Untergeschoss gab es einen riesigen Stand mit Plastikwaffen und Kriegsspielzeug. Damit wurden die Kinder von ihren Eltern erstmal vor dem Museumbesuch stilgerecht ausgestattet. Dann ging es los.
In dem Museum gibt es für jede wichtige Schlacht des 2. Weltkriegs einen einzelnen Raum, der vollkommen mit dramatischen Kriegsszenen darstellenden Tapeten ausgestattet ist. Man steht also quasi mitten „im Krieg“. Zudem gibt es noch theatralische Kriegsdioramen in jedem Raum. Man wird also mehrdimensional mit schaurigen Kriegsszenen überflutet.
Überrascht hat mich, dass die Kriegsbilder im Museum nicht schon älter waren, wie ich vermutet hätte, sondern dass die Kriegsszenen teilweise erst vor relativ kurzer Zeit gemalt wurden.
JB: Und wie reagierten die Besucher auf diese „Inszenierung des Krieges“?
SR: Das war sehr interessant! Die Museumsbesucher machten fröhlich Handy-Bilder der Kriegsdioramen und fotografierten ihre Kinder vor den Schlachten-Tapeten. Bemerkenswert fand ich auch, dass an jedem Kriegsdenkmal in Moskau, das wir besuchten, mindestens ein Brautpaar Hochzeitsfotos machte. Eine für uns sehr absurde Location für ein Hochzeitsfoto.
JB: Sie bezeichnen Ihre Fotografie als „künstlerisch dokumentarisch“ – ist das nicht eigentlich ein Widerspruch?
SR: Ja, und genau diesen möchte ich aufheben. Ich finde, die teilweise herrschende Unterscheidung zwischen Künstler und Fotograf sehr problematisch und möchte sie in Frage stellen. Zudem habe ich den Anspruch, meine Bilder gleichzeitig journalistisch und dokumentarisch wertvoll als auch künstlerisch inhaltsvoll und ästhetisch zu gestalten.
JB: Welche Rolle hat für Sie die Fotografie heute?
SR: Die Rolle der Fotografie hat sich in den letzten Jahren komplett geändert. Sie ist für jeden zugänglich geworden, durch Handys, Filter und günstige, gute Kameras.
Die einfache Zugänglichkeit und Teilbarkeit von Fotos und auch Videos ändert unsere Gesellschaft gerade enorm. Im Guten wie im Schlechten. Genauso wie es das Internet vor vielen Jahren tat. Die Rolle der Fotografie ist meiner Meinung nach heute stärker als jemals zuvor in der Geschichte.
Bei der künstlerischen Fotografie entdecke ich bei vielen Fotokünstlern wieder mehr Interesse an alten, „nicht-technischen“ Techniken, wie z.B. der Cyanotopie. Und auch ein vermehrtes Kombinieren mit anderen Elementen und Kunstgattungen. Vielleicht als Gegentrend.
JB: Wie kam es zu dem launigen Vorwort von Wladimir Kaminer?
SR: Die Idee dazu hatte die Kuratorin des Buches, Nadine Barth. Sie meinte, es gäbe nur einen, der das Vorwort für diese Fotos schreiben könne: Wladimir Kaminer.
Ich fand seine Art zu Schreiben ebenfalls sehr passend für die Fotoserie. Also zeigten wir ihm die Moskau-Fotos. Als ich seine Geschichte zum ersten Mal las, war ich sofort völlig begeistert: Kaminer beschreibt genau die gleiche Absurdität, Bizarrheit und Kulissenhaftigkeit, die ich während meines Moskau-Aufenthalts empfunden habe. Ich finde es wunderbar, zusätzlich die Beobachtungen und Anekdoten eines „Insiders“ in dem Buch zeigen zu können.
Ich habe auf die Reaktionen der ersten Betrachter des fertigen Fotobuchs geachtet. Sowohl bei der Geschichte von Wladimir Kaminer als auch bei meinen Fotos mussten sie schmunzeln, waren aber auch sehr berührt. Da habe ich gedacht, prima, es passt alles perfekt zusammen.
JB: Was sind denn Ihre nächsten Fotoprojekte? Was planen Sie 2017?
SR: Es ist gerade ein weiteres Fotobuch zum Thema Russland im Entstehen – gemeinsam mit einem zweiten Fotografen habe ich über mehrere Jahre die russischen Hinterlassenschaften in Berlin und Brandenburg und deren Verfall umfassend fotografisch dokumentiert.
Auch arbeite ich an einem Projekt über Kriegsspiel-Camps in ehemaligen und aktuellen Kriegsländern, hier führt mich die Reise als nächstes nach Serbien und in die Ukraine.
Zudem ist eine Dokumentation in England geplant, zum Thema „ 1 Jahr nach dem Brexit“.
Und zu guter Letzt ist ein Fotoprojekt über „Murmansk“ und die Entwicklung dieser Stadt geplant, ein wirklich spannendes Projekt auf das ich mich sehr freue.
JB: Liebe Frau Ratkovic, wir danken Ihnen für das Gespräch!