Anfang des 20. Jahrhunderts zogen sechs Menschen aus, ein anderes Leben zu führen. Sie suchten nach einer Befreiung für Mensch und Körper von den Zwängen der wilhelminischen Gesellschaft. Und sie suchten nach einem Ort, wo sie dieses „alternative“, freie Leben führen konnten. Aus München kommend, fanden sie ihren Traumort im Tessin, oberhalb von Ascona. Auf dem damals kahlen, verlassenen Hügel, wollten sie ihre Vorstellung einer „Lebensreform“ verwirklichen. Es waren die Schwestern Ida und Jenny Hofmann beide Musikerinnen, die beiden Brüder Kurt und Gustav Gräser, sowie Lotte Hattemer und Henri Oedekoven. Diese sechs waren der „Kern“ der Bewegung am Monte Verità, dem „Berg der Wahrheit“. Der Monte Verità sollte ein Gegenpol zur miefigen Welt des Bürgertums, seiner spießigen, verlogenen Moral und zu den Deformationen der Industriegesellschaft werden. Schnell schlossen sich viele Aussteiger an und bald schon war der Hügel der Sinnsucher weithin bekannt.
Über diese spannende Zeit, am Beginn des 20. Jahrhunderts, hat Stefan Bollmann ein sehr informatives und unterhaltsames Buch geschrieben. Er zeigt auf, wie schnell sich der Ruf des Berges als Hort der Freiheit verbreitete. Viele Intellektuelle, Künstler, Literaten und Anarchisten lockte es auf den Monte Verità: Michail Bakunin, Erich Mühsam, Hermann Hesse, Käthe Kruse, Marianne von Werefkin und Mary Wegmann – um nur einige zu nennen.
Was vor über hundert Jahren auf diesem mythenumwobenen Hügel vorgelebt und erprobt wurde, hat viele unserer heutigen Versuche zu alternativen Lebensweisen vorweggenommen! Das Verdienst des Buches ist es, die „erste moderne Gegenkultur“ in ihren „kultur- historischen Kontext“ zu setzen. Es waren keine Künstler, die sich dort zuerst ansiedelten, eher schon Lebenskünstler. Es war ein buntes Völkchen – aber einig war man sich in der Ablehnung von Autoritäten und Ideologien. Als Schwerpunkte auf dem Monte Vertià bezeichnet Bollmann die Sehnsucht „zurück zur Natur“, das einfache Leben, Nacktheit, Vegetarismus, Anarchismus und Tanz. Es gab nicht „den“ Monte Verità, keine „Bewegung“ sondern eine Ansammlung von extremen Individualisten. Letztlich gab es so viele Wahrheiten, wie es Wahrheitssucher gab. Die einzige, etwas länger dauernde Konstante war das Sanatorium von Ida Hofmann und Henri Oedenkoven. Gartenarbeit, Gymnastik und ausgedehnte Sonnenbäder sollten gestresste Erholungssuchende dort von den Zwängen der modernen Gesellschaft befreien. Doch das Sanatorium – eine Mischung aus Naturheilanstalt, Kooperative und Hotel für die Bohème – war nie rentabel. Mehrfach musste der wohlhabende Oedenkoven Kapital nachschießen, bis er dann 1920 das Sanatorium verkaufte. Im selben Jahr verließen er, seine Frau Isabella und Ida Hofmann den Monte Verità und versuchten in Spanien, später in Brasilien eine weitere vegetarische Kolonie aufzubauen, was aber wegen der schlechten klimatischen Bedingungen nach kurzer Zeit scheiterte.
Stefan Bollmann weist auf die vielfältigen Parallelen des Aussteigerlebens auf dem Monte Verità zur 68er Bewegung und sogar zu modernen Entwicklungen und Lebensentwürfen hin. Im Kern ging es „vor fünfzig genauso wie vor hundert Jahren um eine Revolte gegen überkommene Lebensformen und ein Ausprobieren neuer Lebensstile. So gesehen bilden beide Revolten ein Kontinuum. Die zweite, die für das Jahr 1968 als Chiffre steht, hat die uneingelösten Versprechen der ersten aufgegriffen und ein gutes Stück der Verwirklichung näher gebracht. Man kann das sehr gut am Feminismus sehen, der, ein Kind der Zeit um 1900, 1968 wieder auf die Agenda gelangte und nicht mehr verschwunden ist“.
Und eine weitere Erkenntnis eröffnet einem das Buch: Veränderung ist möglich oder wie es Thoreau sagt: „Wenn jemand vertrauensvoll in die Richtung seiner Träume vorwärtsschreitet und danach strebt, das Leben, das er sich einbildete zu leben, so wird er Erfolg haben, von denen er sich in gewöhnlichen Stunden nichts träumen ließ.“
Stefan Bollmann: Monte Verità
DVA, München 2017
ISBN: 978-3-570-55406-7
14,00 €
Bei jedem Besuch des Monte Verita überkommt mich ein guuutes Gefühl. Was der genaue Auslöser ist, wer weiss.Ist nicht wichtig. Einfach wirken lassen. Dann noch ein Grüntee Eis aus dem Teehaus. Unbeschreiblich