Dr. Udo Gößwald leitet das Museum Neukölln.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind Museen in aller Welt mit der Herausforderung konfrontiert, die eine globale Weltsicht erfordern. Um die Wirkungszusammenhänge vielfach vernetzter Ökonomien, die Auswirkungen von ökologischen Ungleichgewichten und die Universalisierung von kriegerischen Auseinandersetzungen zu verstehen, ist komplexes Wissen notwendig geworden. Die daraus resultierenden Krisen haben für die Weltbevölkerung und damit für ihr immaterielles und materielles kulturelles Erbe weitreichende Folgen. Wissen über die Ressourcen der Natur und die Bedingung für ihren Erhalt sind angesichts der Endlichkeit der Ressourcen und der Zunahme von Umweltkatastrophen zwingend. Das Museum des 21. Jahrhunderts kann nur dann als gesellschaftliche Instanz eine ernst zu nehmende Rolle spielen, wenn es die Folgen dieser Entwicklung in Bezug auf den Umgang mit kulturellen Manifestationen im Blick hat.
So erfordern die aus kriegerischen Auseinandersetzungen und Wirtschaftskrisen resultierenden vielfältigen Migrationsströme in aller Welt von den Aufnahmegesellschaften ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit. Das Verständnis für die Kultur des jeweils anderen ist deshalb zu einer zentralen Aufgabe der Friedenserhaltung innerhalb moderner Gesellschaften geworden. Kultur ist dabei nicht als eine Glaskugel zu verstehen, in der wir all unsere Wertvorstellungen hineininterpretieren können, sondern Kultur gründet in der Erzählung. Sie ist ein vielwertiges und vielstimmiges Gespräch über Generationen hinweg, in dessen Zentrum der Mensch und seine Erfahrungen in Vergangenheit und Gegenwart stehen. Damit Kultur sich aus scheinbar unzusammenhängenden Teilen, aus den Fragmenten des Lebens immer wieder neu erschaffen kann und damit Zukunft erzeugt, bedarf es einer offenen und freien Zivilgesellschaft, die politisch erstritten und verteidigt werden muss.
Das globalisierte Museum – wie ich es nenne – kann für diese permanente Debatte ein geeigneter Ort sein, indem es sich mit dem komplexen Verhältnis von Mensch und Natur in unserer Zeit auseinandersetzt und gegen alle zerstörerischen Kräfte das welt- und menschenerhaltende Prinzip des Lebens setzt. Die besondere museale Aufgabe besteht darin, aus dem jeweils besonderen, einzigartigen Phänomen der Geschichte oder der Natur, seine Bedeutung für das jeweilige Ganze zu erschließen. In diesem Sinne lautet die Grundfrage für das Museum: Was bedeutet es, ein menschliches Wesen zu sein? Wo sind seine Chancen, seine Möglichkeiten, aber auch seine Verfehlungen? Die Antworten hierfür müssen in dem jeweiligen historischen Kontext gesucht und dem Publikum von heute vermittelt werden, sodass daraus Erkenntnisse für die Zukunft gewonnen werden können. Das Museum ist ein Ort, an dem nicht die Geschichte präsentiert wird, sondern die Besucher die Möglichkeit erhalten, durch die Auseinandersetzung mit dinglichen Zeugnissen, sich selbst in der Geschichte des anderen wiederzuerkennen. Diese Form der Empathie und der gegenseitigen Akzeptanz ist die Voraussetzung, um die eigene Identität zu überprüfen und im Sinne eines konstanten Prozesses immer wieder neu zu formen.
Wenn sich das moderne, offene Museum diesen Fragen stellt und aktiv auf Menschen des jeweiligen sozialen Umfeldes zugeht, kann es eine wichtige Rolle in der Gesellschaft übernehmen. Zeigt sich das Museum dabei kompetent und verlässlich als Partner im Dialog mit Bürgerinnen und Bürger, die sich mit der Geschichte und Gegenwart ihrer Stadt oder Region auseinandersetzen wollen, kann es als gesellschaftliche Instanz wahrgenommen werden.
In meinem letzten Projekt am Museum Neukölln mit dem Titel „Das Museum des Lebens. Private Erinnerungskultur aus Neukölln“ (Eröffnung am 7.Mai) geht es um die Dynamik und Energie der Erzählung, mit der die Angehörigen von verstorbenen Neuköllner*innen sich der Herausforderung stellen, an Menschen zu erinnern, die sie verloren haben. Mit Hilfe von Objekten und Dokumenten aus ihrem Nachlass, versuchen sie, sich den wesentlichen Werten zu nähern, die die Verstorbenen auszeichneten und die sie mit in ihre eigene Zukunft nehmen wollen. Zugleich reflektieren die zehn Biografien wie im Brennglas zentrale Erfahrungen im Umgang mit Verlust, Angst, Trauer, Freundschaft, Gewalt, Liebe, Flucht, Krieg und Verfolgung. Damit ist eine allgemeine Perspektive formuliert, die ich für die Zukunft der Museen für relevant halte: es geht nicht um die Steigerung der Aufmerksamkeitsökonomie (in welcher Form auch immer), sondern um die Fokussierung auf das Wesentliche des menschlichen Daseins. Das Museum sollte der Ort sein, an dem Menschen den Dingen Aufmerksamkeit schenken können, die ihnen ermöglichen, eine lebendige, konstruktive und aktive Beziehung zur Welt herzustellen.
Foto: Objektinstallation in der Ausstellung „Das Museum des Lebens“. © Cordia Schlegelmilch