Gedenkstätten in Zeiten der Krise – was tun? Im Gespräch mit Rebekka Schubert vom Erfurter Erinnerungsort Topf & Söhne

Rebekka Schubert ist am Erfurter Erinnerungsort Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz zuständig für die Bildungs- und Vermittlungsarbeit

Der Erinnerungsort ist die einzige historische Stätte in Europa, an der an einem ehemaligen Firmensitz die Mittäterschaft der privaten Wirtschaft am Massenmord in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern gezeigt und belegt wird. Vor dem Hintergrund dieses gut erforschten und dokumentierten Geschehens, bietet der zu den Erfurter Geschichtsmuseen gehörende Erinnerungsort Raum zur Reflexion aktueller gesellschaftlicher Fragen. Anliegen unseres Hauses ist es, die gesellschaftlichen und individuellen Potenziale für Mitmenschlichkeit, Demokratie und Menschenrechte zu stärken und gegen jede Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit Stellung zu beziehen. Mit seiner Bildungs- und Vermittlungsarbeit, seinen wechselnden Sonderausstellungen und einem umfangreichen Veranstaltungsprogramm ist der Erinnerungsort ein Ort der Begegnung und Impulsgeber einer historisch informierten und kritischen Zivilgesellschaft.

JB: Im Moment sind es schwierige Zeiten für Gedenkstätten, Museen und Kultureinrichtungen. Die Corona-Krise hält an, eine Ende ist nicht abzusehen. Was heißt das für Sie konkret?

RS: Die Gespräche mit Besucherinnen und Besuchern sowie die Arbeit mit Gruppen fehlen schon. In Zeit der Schließung nutzen wir die Zeit, um stärker konzeptionell und inhaltlich zu arbeiten, Liegengebliebenes aufarbeiten und damit eine gute Grundlage für die Zeit nach der Schließung schaffen.
So entsteht gerade ein Konzept für das Zweitagesseminar „Was geht mich das an?“. Mit diesem Angebot wollen wir die Geschichte des Nationalsozialismus so vermitteln, dass Polarisierung und Abwehr von Migration in der Gesellschaft geschwächt und das Verständnis von Demokratie und Vielfalt gestärkt werden. In den Seminaren nähern wir uns über biographische Zugänge der Verfolgung und Vernichtung deutscher Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus an und diskutieren, was die Geschichte des Nationalsozialismus für uns heute bedeutet. Von der geschichtlichen Dimension ausgehend, wollen wir uns mit der eigenen und der gesellschaftlichen Vielfalt auseinandersetzen. Theaterübungen und Spiele regen zudem dazu an, die eigenen Handlungsspielräume in Diskriminierungssituationen zu erkunden und ermutigen, im Alltag Haltung zu zeigen. Denn eine Sensibilisierung für Vorurteile und eigenverantwortliches Handeln erscheint besonders dort notwendig, wo ein wachsender Teil der Gesellschaft rechtspopulistische und menschenfeindliche Einstellungen unterstützt.
Auch bereiten wir zurzeit die neue Sonderausstellung „Wohin bringt ihr uns? ‚Euthanasie‘-Verbrechen im Nationalsozialismus“ vor. Deren Eröffnung war ursprünglich für den 8. Mai geplant und ist nun verschoben worden. Vor 80 Jahren begann der erste systematische Massenmord im Nationalsozialismus, dem 300.000 Menschen in psychiatrischen Anstalten, Erziehungs-, Behinderten- und Altersheimen in Deutschland und in besetzten Ländern zum Opfer fielen. Auch Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge, politisch Andersdenkende, Juden, Sinti und Roma, als „asozial“ Verfolgte, Kriegsgefangene sowie traumatisierte Wehrmachtssoldaten und Zivilisten wurden als „Ballastexistenzen“ getötet. Das Thema der Ausstellung zeigt, wohin die Verweigerung von Solidarität führen kann.
Außerdem gestalten wir Angebote, um mit unseren Besucherinnen und Besucher in Kontakt bleiben – eben auf andere, digitale Weise.

JB: Was hat es mit Ihrer „Tütenaktion“ auf sich? Was verbirgt sich dahinter?

RS: Seit Samstag, 4. April, können Interessierte am Erinnerungsort Topf & Söhne täglich zwischen 10 und 18 Uhr Tüten gefüllt mit Lesestoff abholen. Darauf gedruckt sind die Worte des Buchenwald-Überlebenden Stéphane Hessel zur Eröffnung des Erinnerungsortes am 27. Januar 2011: “ … wenn man die Menschlichkeit einmal verliert, kann man sie lange nicht mehr zurückgewinnen. Jetzt brauchen wir sie mehr denn je.“ Die Bücher in den Tüten werden mit freundlicher Unterstützung der Landeszentrale für politische Bildung kostenfrei zur Verfügung stellt.
Bei Facebook regen wir zum Austausch über das Zitat von Stéphane Hessel an und rufen zur Solidarität mit denjenigen auf, die sie gerade am meisten brauchen. 
Zehn Tage nach Beginn der Aktion zeigt sich eine gute Resonanz: Der Aufruf erreichte über 2.400 Personen auf Facebook, wurde über 30 Mal kommentiert und zwölf Mal geteilt. Bisher wurden 31 Tüten abgeholt. Manche der Besucherinnen und Besucher hinterließen ihre Eindrücke auf der Facebook-Seite des Erinnerungsortes. Zahlreiche Personen zeigten sich begeistert: „Sehr schöne Aktion!“, heißt es in einem Kommentar, „Wundervoll“ in einem anderen. Einige schickten Fotos von ihrer Begegnung mit Stéphane Hessel oder von sich mit der Tüte. „Wenn ich die Tüten sehe, denke ich gerne an den bezaubernden Stephane Hessel, dessen […]  ‚Empört euch!‘ ich als tägliche Motivation […] mit in die

Schule trage!“ schrieb eine Lehrerin. Viele derjenigen, die sich an der Aktion beteiligten, sahen sich im Anschluss die Außenausstellung des Erinnerungsortes „Mitten in der Gesellschaft. J.A. Topf & Söhne und der Holocaust“ an, die jederzeit zugänglich ist.

JB: Welche Kanäle nutzen Sie, um Interessierte zu informieren?

RS: Unser Hauptmedium ist die Website www.topfundsoehne.de. Sie bietet ständig aktualisierte deutschsprachige Informationen sowie grundlegende Informationen in englischer Sprache an. Sie ist im Responsive Design abrufbar und kann bequem von verschiedenen Endgeräten aus genutzt werden.
Informationen kommunizieren wir zudem über Facebook. Interessierte und Freunde des Hauses, die Facebook nicht nutzen, informieren wir über unseren E-Mailverteiler.

JB: Welche digitalen Angebote haben Sie entwickelt, um trotz Schließung zu kommunizieren?

RS: Besondere Aufmerksamkeit richtet das Team des Erinnerungsortes derzeit darauf, mehrmals pro Woche neue Meldungen auf www.topfundsoehne.de einzustellen, um Eindrücke aus unserer Arbeit und Gedankenanstöße zu Dokumenten und Ausstellungsobjekten in unserem Haus zu teilen.
Als neues Format berichten freiberufliche Guides aus unserem Team, die wir derzeit nicht mit Führungen beauftragen können, über für sie besonders wichtige Exponate in der Dauerausstellung. Sie erzählen, welche Fragen sich in der Auseinandersetzung mit ihnen für unsere Gegenwart ergeben und welche Gespräche sich mit unseren Gästen entwickeln.
Unsere derzeitigen FSJ-Freiwilligen haben in einem Artikel ihre Arbeit vorgestellt. Aktualisiert haben wir auch die Auswahl besonders berührender Notizen unserer Gäste der Dauerausstellung, die wir einmal im Jahr veröffentlichen.
In dieser Woche entstehen professionelle Filme zum Haus, der Ausstellung und Projekten, die auch in kleinen Einheiten abgestuft und nachhaltig veröffentlicht werden können.
Auch beteiligen wir uns an Aktionen anderer Einrichtungen und Initiativen. Mit Plakaten, die Gesichter ehemaliger Häftlinge und den Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ zeigen, haben wir an dem stillen Gedenken anlässlich der Befreiung des KZ Buchenwald teilgenommen. Zum 8./9. Mai wird auch am Erinnerungsort ein Banner „Gold statt Braun“ zu sehen sein. Anlässlich des Endes des Zweiten Weltkrieges beteiligen sich Erfurter Kultureinrichtungen an der bundesweiten Aktion und knüpfen ein „Goldenes Band“ durch die Stadt.  Die Banner oder vergoldeten Außenfassaden stehen symbolisch für pluralistische und solidarische Gesellschaft. Zum Internationalen Museumstag bereiten wir für die Besucherinnen und Besucher Aktionen vor, mit denen sie die Ausstellung digital entdecken können.

JB: Was wünschen Sie sich als Lehre, wenn die Krise einmal überstanden ist. Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

RS: Die derzeitige Situation hat wieder einmal deutlich gemacht, dass Arbeit im Museum eine kreative Arbeit ist und sich vor allem auch durch Teamwork auszeichnet. Die große Bedeutung der digitalen Kommunikation und Vernetzung ist noch bewusster geworden und sicherlich werden dort zukünftig mehr Ressourcen hineingegeben. Ich wünsche mir, dass wir uns intensiver und auch selbstreflexiv befragen, wie uns Museen mit ihren Inhalten, Themen und Ausstellungen bei der Bewältigung von Herausforderungen inspirieren können. So kann uns bspw. die historische Erinnerung helfen, uns auch in schwierigen Zeiten unserer eigenen Werte zu versichern.So kann uns bspw. die historische Erinnerung helfen, um uns auch in schwierigen Zeiten unserer eigenen Werte zu versichern.

JB: Frau Schubert, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Abb. 1: ©Kastner Pichler Architekten
Abb. 2 u. 3 ©Jörn Brunotte


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